Ein kleiner Ausschnitt aus dem Buch
Ausschnitt aus Band 3: Das Notenschlüssel-Trio und Beethovens Ohrenmaschine
08 Johann Nepomuk Mälzel
„Tata-Tata-Tataaaaa!!!!“
Mit einem Schlag waren drei Zeitreisende wach! Emanuel war sofort aus dem Bett gesprungen, Shenay hatte sich unter der Decke verkrochen und Simon rieb sich die Augen.
„Himmel noch mal, was war das denn? Es klang wie ein Trompeter! Ich dachte, mein Herz bleibt stehen!“ Emanuel fuhr sich mit den Händen durch die verstrubbelten Haare. „Kommt, wir stehen besser auf und ziehen unsere Kleider an. Bestimmt sind wir nicht die einzigen, die den Krach gehört haben. Wenn jemand auftaucht, möchte ich nicht in Unterwäsche erwischt werden. Es ist ja schon Tag. Und nicht gerade warm hier.“
„Jaaa, wir müssen uns sowieso das Gruselkabinett im Hel-len ansehen. Shenay, komm raus da, Entdeckungsreise!“ Simon stieg bereits in seine Hosen.
„Geht ihr allein, Jungs. Mir reicht es noch von gestern Abend. Außerdem brauche ich mit meinem Kleid ein bisschen länger. Und ohne Spiegel eine Frisur zu richten, die über Nacht durcheinandergebracht worden ist, ist eine Herausforderung für sich. Haut ab, ihr könnt mir später alles zeigen. Vielleicht findet ihr ja eine Waschgelegenheit…“
Simon und Emanuel verließen den kleinen Alkoven, in dem das musikalische Ruhebett stand. Was sie da sahen, versetzte sie in großes Erstaunen.
„Wow! Shenay, es ist ein riesiger Raum voller Krempel, wie ein Museum! Überall steht mechanisches Zeug herum! Guck mal, Manu, ich glaube, der hier hat uns geweckt.“ Simon zeigte auf eine große Figur, die eine Trompete am Mund hielt. „Wieso ist die Trompete einfach losgegangen? Der Apparat kann doch keine Solarzellen oder eine elektronische Zeitschaltuhr haben!“
„Vielleicht gibt es eine Art mechanisches Uhrwerk wie bei einem Wecker? Und das startet einen Blasebalg oder so? Ach, hier liegen die ganzen Beine und Füße, über die wir gestern gestolpert sind! Haha! Von wegen Zombies! Das sind einfach nur stinknormale Prothesen aus Holz und Metall. Schau mal, Simi, eigentlich ganz cool gemacht, das Knie lässt sich mehrfach biegen und der Fuß immerhin drei Mal. Damit kann man bestimmt eine Treppe hinunter gehen oder auf ein Pferd steigen.“
„Aber wieso sind das so viele? Wer braucht einen solchen Haufen Beine? Eine Klinik? So wie bei meiner armen Groß-
mutter?“
„Krieg!“, kam es aus dem Alkoven. „Viele zerfetzte Gliedmaßen. Männer, die wieder gehen möchten, die eine neue Lebensqualität und Selbstbewusstsein geschenkt bekommen. Wir haben oder hatten vielleicht gerade Krieg hier?“ Shenay kam aus der Nische und überreichte Emanuel die Umhängetasche mit dem dicken Buch und seiner Blockflöte. „Hier, nicht vergessen. Lag immer noch unter dem Kopfkissen. Ich hab die Feder für das Spielwerk im Bett gefunden und neu aufgezogen, auch die Decken und Kissen wieder hergerichtet. Man sieht nicht mehr, dass wir darin geschlafen haben. Aber euch sieht man es an, ungekämmte Haare, zerknitterte Hemden und Hosen. Habt ihr die nach dem Ausziehen einfach auf den Boden geworfen? Und Manu, deine schöne Schleife sitzt schief! Simi, wieso hast du deine noch in der Hand? Sieht aus wie ein Putzlappen! Gestern feine Herren und heute höchstens Dienstpersonal…“
„Anders können wir eben gerade nicht. Wir müssen jetzt rausfinden, wo wir sind. Guckt mal, es gibt zwei große Fenster da vorn und eine Eingangstür dazwischen. Wirkt fast wie ein Laden, oder? Das passt doch auch zu den Prothesen. Die werden hier bestimmt verkauft. Gehen wir mal weiter. Oh, hier ist der Mann, vor dem du gestern Nacht solche Angst hattest, Shenay. Ein Türke an einem Schachtisch! Und die lange Pfeife hast du für ein Laserschwert gehalten, na, die ist nun kaputt….“
Shenay lachte befreit. „Oh, hier, wie schön, da ist eine Frauenpuppe an einem Tasteninstrument, die würde ich sehr gern spielen hören! Was ist wohl dieser Riesenkasten an der anderen Wand? Und daneben ist noch eine Tür! Sollen wir versuchen, die zu öffnen?“
Emanuel war skeptisch. „Lasst uns lieber erst mal schnell den Ausgang checken. Simi, was machst du denn da gerade?“
„Och, ich hab hier nur einen coolen Sekretär gefunden. Wie bei Mozart. Erinnert ihr euch? Der hier hat bestimmt auch tolle Geheimverstecke.
Ich will nur mal schnell ausprobieren, ob ich sie finde.“
Emanuel drehte gerade den Schlüssel um, der im Schloss der Ladentür steckte, und wollte eben die Klinke herunterdrücken, als ein ohrenbetäubender Lärm losging. Wieder eine Trompete, diesmal begleitet von heftigen Trommelwirbeln, aber viel lauter!
Und im selben Moment wurde der Junge zur Seite und auf den Boden geschleudert, als die Ladentür mit Schwung geöffnet wurde. Den Schlüssel hatte er im Sturz abgezogen und hielt ihn krampfhaft in der Hand.
Ein Mann betrat gutgelaunt den Laden.
Während Shenay noch versuchte, ihrem Trio-Freund wieder auf die Beine zu helfen, näherten sich auch von woanders laute Schritte. Jetzt erschien in der Tür neben dem Riesenkasten ein weiterer Mann mit aschfahlem Gesicht und weit aufgerissenen Augen.
„Aber was…?!“ – „Oh mein Gott…!“ – „Auuu!“ – „Guten Morgen, mein Lieber!“ – „Wieso ist die Tür…?“ – „Verzeihung, wir…“, redeten alle durcheinander in dem unglaublichen Chaos, während der Trompeten-Tusch, vom Trommeln begleitet, noch einmal kurz markerschütternd erschallte.
„Donnerwetter, Mälzel, das ist ja wieder mal ein Blasen und Schlagen wie es im Buche steht“, schmetterte eine dunkle Stimme.
„Ha, eine neue Ergänzung zum Panharmonium. Die ist dir besser gelungen als der peinliche Trompeter, dessen Lungen am Ende immer schrumpfen! Mein Freund, ich sehe, du hast neue Dienstboten bei dir“, er deutete auf die verdutzten Kinder. „Ich wollte mit dir zusammen ein gutes Frühstück nehmen. Komm, wir gehen in die ‚Goldene Birne‘!“
Eine noch tiefere Bassstimme schrie fast: „Wieso meine Dienstboten? Ich dachte, das seien deine, Beethoven!? Ich habe keine! Was machen die dann hier?“
„Eine von meinen Dienstbotinnen habe ich gerade rausgeworfen. Morgen kommt übrigens meine versoffene alte Köchin wieder. ‚Frau Schnaps, die schnell segelnde Fregatte‘, so habe ich sie getauft. Sie ist zwar dauernd beschwipst, aber sie kann wenigstens kochen und kennt meinen Haushalt.
Diese beiden Personen hier sind zwar zerzaust wie Dienstboten, doch ihre Kleidung ist von weit höherer Qualität. Also doch Kundschaft, Johann Nepomuk? Und antworte bitte laut genug.“
„Ich weiß nicht, ich war gestern nicht hier. Mein Bruder Leonhard hatte Dienst.“
Die Männer wandten sich den beiden Kindern zu, die bisher wie begossene Pudel dagestanden hatten. Shenay starrte Beethoven mit weit aufgerissenen Augen an. Der Mann war stark gealtert! In einer Nacht!
„Äh… genau…“, kam aus Emanuels Mund.
„Wie… genau…?“ Mälzel.
„So war es!“, rief Shenay ängstlich.
„War was?“ Beethoven.
„Naja, er hat uns hier eingesperrt“, kam kläglich eine Stim-me aus der Tiefe des Raumes. Alle Köpfe (außer dem großen Schädel Beethovens) fuhren herum und Mälzel zeigte begeistert auf Simon, dessen Hände von zwei Metallringen an der Schublade eines Schreibtisches festgehalten wurden.
„Ha, auf frischer Tat ertappt! Mein diebstahlsicherer Schreibtisch funktioniert! Jetzt werde ich sofort die Geheimpolizei rufen, die steht ohnehin an jeder Straßenecke. Drei Spione auf einen Schlag gefangen! Ha, meine Geheimnisse stehlen wollen, mein ‚Kabinett mechanischer Werke‘ ausspionieren, das habt ihr euch so gedacht! Ha, der Trompeter hat Alarm geblasen, der Dieb ist gefasst! Polizei! Her mit der Polizei!“
„Das hier ist Körperverletzung und Freiheitsberaubung!
Da betrachtet ein Besucher ahnungslos die wundervollen Einlegearbeiten dieses Schreibtisches und wird gleich von einem Möbel arretiert.“ Trotz seiner gefesselten Hände war Simon reaktionsschnell und lief geradezu zu Höchstform auf.
„Unerhört!“, zeterte er lauthals. „Dabei ist uns ohnehin schon so Schlimmes zugestoßen! Wir sind drei harmlose Personen
auf Bildungsreise. Auf dem Weg zum großen Ludwig van
Beethoven. Dem wollen wir unsere Dienste im Austausch ge-
gen Kompositionsunterricht anbieten. Da kommen wir hier an diesem interessanten Ort vorbei und betreten den Laden, um eine Prothese für meine arme Großmutter zu erstehen, und ehe man sich’s versieht, wird man kurzerhand eingeschlossen!
Man muss in einem schrecklich falsch musizierenden Bett übernachten. Kein Personal in der Nähe, kein Frühstück, keine Waschgelegenheit! Ja, man hole bitte sofort die Geheimpolizei, aber den obersten Chef! Wir legen den allergrößten Wert darauf, uns gerade an richtiger Stelle zu beschweren. Unerhört, wirklich unerhört, das wird Konsequenzen haben! Und jetzt fordere ich, von diesen Fesseln befreit zu werden, und zwar sofort.“
Wortlos drückte Mälzel einen Knopf und Simon war aus seiner misslichen Lage befreit.
Alle schwiegen. Und standen einfach nur da. Mälzel war der erste, der die Unentschlossenheit und Stille nicht mehr ertrug.
Die Anwesenheit des Trios jetzt vollkommen ignorierend, fasste er Beethoven am Arm und zog ihn weiter in den Raum hinein. „Komm, Ludwig, ich habe deine neuen Ohrenmaschinen fertig, lass sie uns anpassen. Es gibt eine kleine zum Transportieren und eine sehr große für das Klavier. Damit sollte es dir gelingen, leisere Töne wieder zu hören. Wir probieren es mit dem Panharmonium, meinem automatischen Orchester, aus. Du selber hast ja die Musik dafür komponiert, weißt also jeden Ton auswendig, da wird sich schnell zeigen, wie gut es funktioniert.“ Shenay wunderte sich. Das war doch die große Schöpfkelle, die sie in der Nacht gefunden hatte.
Es war also eine ‚Ohrenmaschine‘? Wieso denn ‚Maschine‘? War da ein Mechanismus eingebaut?
Das große Hörrohr hatte eine Halterung, mit der man es sich um den Kopf hängen konnte. Diese stülpte der Mechaniker auf Beethovens mächtigen Schädel, drückte ihm das lange Rohr in die Hand, das schmale Ende ans Ohr, und legte den Trichter auf einen Absatz der riesigen Musikmaschine. Dann betätigte er ein Rad. Es ertönte eine Art Jahrmarktsmusik, die mächtig schräg klang. Ludwig hatte die Augen geschlossen und atmete schwer, während der Erfinder ihn aufmerksam beobachtete.
„Was für ein Machwerk“, schnaubte Beethoven leise vor sich hin, als das Panharmonium wieder schwieg, „ein schreckliches Gelegenheitsstück, welche Dummheit. Ich weiß auch nicht, welcher Höllenhund da mein Gehirn beleckt hat.“
Der Meister hob den Kopf, das riesige Hörrohr mit beiden Händen dem Mechaniker entgegen hebend.
„Nein, Maestro, ein perfekt auf das Panharmonium und auf die Gelegenheit komponiertes Œuvre, ein gutes Werk, passend geschneidert! Und morgen wird diese Komposition die hervorragendsten Vertreter ganz Europas erfreuen!“ Mälzel streichelte den großen Kasten.
Beethoven schaute fragend die drei Kinder an. „Kirmesmusik!“, rief Shenay. „Billiges militärisches Feuerwerk“, rutsche es Emanuel heraus. Simon atmete tief ein, dann verbeugte er sich vor Beethoven. „Großer Meister, ich verehre Euch. Eure Musik ist das Wunderbarste, was es gibt…“, Ludwig zog die Stirn in Falten, „aber das gerade war der größte Mist, den ich je gehört habe.“
Manuela Christens Sprache ist bewusst einfach gehalten, aber keineswegs simpel … beweist großes Einfühlungsvermögen und beschreibt prägnant.
Hans-Jürgen Becker, Südkurier 4.2.2017